Leben? Oder Theater?
Eine Bilderzählung von Charlotte Salomon
„Leben? Oder Theater?“, ein Werk voller Brüche in einer radikal neuen Bildersprache, die weit über ihre Zeit hinausweist. Die Folge von 769 Gouachen verschmilzt Erzähltexte und Bilder zu einer Geschichte der Familie Kann. Charlotte Salomon wählte die Bilder aus über 1300 Gouachen aus, die sie 1940 in der französischen Emigration in einem Hotelzimmer gemalt hatte. Sie teilte das Konvolut in Vorwort, Hauptwort, Nachwort, Akte und Aufzüge ein. Die an Goethes Farbenlehre orientierten und in durchscheinenden Pastelltönen gehaltenen Bilder sind wagemutig, expressionistisch, manchmal schrill, manchmal zart und spielen mit den Mitteln der modernen Filmtechnik: Wechsel von der Totalen zur Nahaufnahme, zur Rückblende.
Charlotte Kann, die Hauptfigur der Erzählung, trägt starke autobiographische Züge der Künstlerin. Charlotte schildert das Leben ihrer Großeltern, ihrer eigenen Eltern und ihr Leben zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Berlin bis in die Emigration 1940. Neben Charlotte sind die wichtigsten Figuren die Stiefmutter Paulinka Bimbam (Paula Salomon-Lindberg) und deren Gesangspädagoge Amadeus Daberlohn (Alfred Wolfsohn), zwischen denen sich eine Art Dreiecksverhältnis entwickelt.
Es entfaltet sich ein schillerndes Bildungspanorama der Zwanziger Jahre: „Das dreifarben Singespiel“, so der Untertitel, weist das Werk als ein Libretto für ein operettenartiges Musikstück aus. Das musikalische Repertoire ist breit und reicht über Arien aus Oper und Operette, Kunst- und Volksliedern bis zu Schlagern der damaligen Zeit. Wie in einer Revue ziehen Dialoge, Musikeinlagen, Bibelpassagen, Sprichwörter und zahlreiche Literaturzitate am Leser vorbei.
_________________________________________________________________________
„... Amadeus Daberlohn, Gesangsprophet, tritt auf mit der Melodie
Auf in den Kampf, Tore - ro. Mut in der Brust, siegesbewußt.
...
DABERLOHN:
Ich hab das Leben wieder satt. Wohin, wohin ist meine Kraft?
Ach - wie erfrischt es meine Kehle und dringt ganz tief in meine Seele.
Ach, dies berauschende Getränk, auch mir, auch mir, ward es geschenkt.
Quäle mich von morgens früh bis abends spät. Wenn ich wenigstens dabei etwas verdienen tät.
Doch niemand, niemand glaubt an mich. Nur ich, ist das nicht wirklich lächerlich?
...
Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.
Gewiß hab ich zuviel getrunken ...“
Charlotte Salomon: Leben? Oder Theater?